Kinderzeche Dinkelsbühl 2022

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:News / News 08/22

Heimatverbundenheit ist wichtig, sagt Max Mattausch, dass Menschen bereit sind, persönliche Interessen und Befindlichkeiten hintanzustellen, in der Verbundenheit zur Heimatstadt, zum Heimatfest. Ohne Heimatverbundenheit hätte der 33-Jährige vielleicht trotzdem Geschichte studiert, wäre aber wohl in die Wissenschaft gegangen, statt ins Dinkelsbühler Stadtarchiv.

Mit der Stadtgeschichte hat die Kinderzeche nicht viel zu tun, sagt Maximilian Mattausch, wohl aber mit Identität, für die er sich mit ganzer Kraft einsetzt. Fotos: privat

Kann der Lorebub ein kleines Mädchen sein oder schwarzgelockt? Interessante Frage, aber keine, die das Wesen der Dinkelsbühler Kinderzeche berührt. Da ist ein Kind, das mit strahlenden Augen und Goldlocken einen schwedischen Regiments-Chef bezaubert und letztlich den Ausschlag dafür gibt, dass die Stadt nicht brennt, dass alle, die in ihr leben, nicht beraubt werden, vergewaltigt, gequält, totgeschlagen.

Ob’s dieses Lorekind tatsächlich gegeben hat, weiß ohnehin niemand: Aber dass die Stadt der Vernichtung entgangen ist, hat sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. So wie andernorts das Einbringen der ersten Ernte nach einem Hungerjahr nachgespielt wird, oder noch nach Jahrhunderten das Ende einer Viehseuche ein Feiertag ist. In Untergröningen wird bis heute zelebriert, dass einst eine neue Herrin, die Fürstin von Hohenlohe-Waldenburg-Bartenstein, dem Ort nicht ihren Glauben aufgezwungen und ihm sogar eine Kirche gebaut hat.

 

Warum opfern Menschen Dutzende, Hunderte, insgesamt Tausende Stunden kostbarer Freizeit, um solche Traditionen weiterzugeben von Generation zu Generation? Maximilian Mattausch ist genau der Richtige für diese Frage.

 

Er ist geschäftsführender Vorstand des Kinder- und Heimatfestes „Die Kinderzeche“ in Dinkelsbühl und damit das Gesicht und der Manager dieses immateriellen Kulturerbes.

 

Natürlich hinterfragt einer wie der Dinkelsbühler Stadtarchivar seine Berufung zum Ehrenamt, das übers Jahr gesehen einem Halbtagsjob gleichkommt. Bei Kinder- und Heimatfesten spiele immer auch die Flucht aus dem Alltag eine Rolle, räumt er ein. Die Kinderzeche hat für den Historiker wenig mit historischer oder gar wissenschaftlicher Korrektheit zu tun. „Zwar liegt der Kern des Brauchtums meistens in der Vergangenheit und bezieht sich oftmals auch auf mehr oder weniger wahre Begebenheiten, das tun Märchen aber auch, die sich nach wie vor größter Beliebtheit erfreuen“ – so Mattausch, mit Blick aufs Marvel-Universum oder auch auf Star Wars: „Das sind oftmals nur neu verpackte klassische Stoffe.“ Dennoch geht es bei der Kinderzeche um viel mehr als das bloße Nachspielen von Vergangenheit wie etwa bei den Mittelaltermärkten.

 

Widerstandsfähige Gemeinschaft

 

Möglichst große historische Authentizität sei wichtig, weil man sich zurückbesinnen wolle. Diese Rückbesinnung sei von elementarer Bedeutung, wenn es darum gehe, eine Gemeinschaft zu bilden, die dann auch für die Zukunft gewappnet sei. Der Kulturwissenschaftler Jan Assman hat die Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ aufgestellt. Eben dieses Gedächtnis, das eine widerstandsfähige Gesellschaft produziert, wird Mattausch zufolge auch durch Bräuche gespeist. „Ein Miteinander über alle Grenzen und ich meine hiermit wirkliche alle Grenzen. Viele Menschen haben in der heutigen Zeit das Gefühl keinen Halt mehr zu besitzen und alleine und verloren zu sein.“ Daraus speise sich „natürlich“ auch das Verlangen nach Gemeinschaft.

 

Vergessene Diskussionskultur

 

Mattausch bedauert, dass die Kultur der sach- beziehungsweise themenbezogenen Diskussion verloren gegangen sei, weswegen viele Gespräche letztlich abrupt in einem Schwarz oder Weiß endeten. „Hier nehmen die Heimatfeste eine zentrale Rolle ein. Ein über Generationen eingeübter Brauch, auf den sich alle verständigen können, bei dem es keine Ausgeschlossenen gibt und bei dem, zumindest in der Grundidee, aller einer Meinung sind. So schafft Brauchtum das, was Politik oder unsere heutige Gemeinschaft nur schwer schaffen, Konsens.“

 

Eine Familiengeschichte

 

Als Maximilian Mattausch 1989 in Dinkelsbühl geboren wurde, war die Begeisterung für die Kinderzeche schon alt in seiner Familie. Der 1900 geborene Urgroßvater kämpfte als bayrischer Kavallerist im Ersten Weltkrieg, und ganz selbstverständlich übernahm er eine Rolle als schwedischer Reiter im Heimatspiel. Als Großvater Hans Mattausch 1929 geboren wurde, war die Familie bereits in exponierter Stellung engagiert: Obwohl seine Eltern nicht verheiratet waren, konnte Hans als kleiner Bub den Lorebub spielen.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit allzu schmerzhaft und beschämend war, erfuhr die Kinderzeche eine neue Blütezeit und Hans durchlief, angefangen beim Exerziermeister des Knabenbataillons, die Kinderzech-Ränge, übernahm schließlich die Rolle des Stadthauptmanns Bernhard von Freisleben und wurde 1975 zum Vorsitzenden des Festspielausschusses gewählt. Dass sein Sohn Hans-Peter – 1962 geboren, 1966 ebenfalls der Lorebub seiner Zeit und ab 1988 Chef des Zunftreigens – in seine Fußstapfen trat, wollte er partout nicht: Das sei keine Erbfolge, hat er oft gesagt.

 

Hans-Peter wurde trotzdem Vorsitzender, 1997, zum Hundertjährigen des „historischen Festspiels“ von Ludwig Stark, und er änderte einiges, vor allem aber den autoritären Führungsstil seines Vaters. Von da an spielten Kommunikation und Miteinander eine viel größere Rolle. Ausflüge, generell die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls wurden zunächst etwas argwöhnisch beäugt, erwiesen sich aber im Nachhinein als rechtzeitige, glückliche Weichenstellung.

 

Genau 25 Jahre später, vor wenigen Wochen, hat Hans-Peter Mattausch nach langer Übergangszeit und in gutem Einvernehmen die Verantwortung endgültig wiederum einem Mattausch übergeben, seinem Sohn Maximilian, der bereits mit drei Jahren (blondgelockter) Lorebub wurde und sich schon damals gar nicht mehr einkriegte vor Begeisterung.

 

Fast 40 Jahre später kommt der Dritte im Familien-Bunde nun, wie Vater und Großvater vor ihm, in den Wochen vor dem Festspiel ebenfalls locker auf 80-Stunden-Wochen. Seine Ehefrau, sagt er dazu, „weiß, wen sie geheiratet hat“. Die Eheleute kennen sich seit vielen Jahren, haben früher gemeinsam beim Zunftreigen getanzt. Max Mattausch spricht vom Glücksfall, „dass wir alle Frauen aus Dinkelsbühl geheiratet haben, denen die Kinderzeche etwas bedeutet“; seine Eltern haben sich einst beim Zunftreigen kennengelernt.

 

Für Süddeutschland zuständig

 

Max Mattausch ist also Organisator und Geschäftsstellenleiter der Kinderzeche und dafür das ganze Jahr über tätig, ohne Dank zu erwarten oder eine finanzielle Entschädigung. Ab Oktober ist er zudem Präsident der Arbeitsgemeinschaft historischer Kinder- und Heimatfeste Süddeutschland, der zum Beispiel Würzburg, das Cannstatter Volksfest, das Biberacher Schützenfest, das Rutenfest in Ravensburg und die Haller Sieder angehören und die sich unter anderem um den Rahmenvertrag mit der GEMA kümmert, mithin um eine der seltenen gewordenen Ausgleichsvereinigungen mit der Künstlersozialkasse. Er ist auch Vorsitzender des Kreisjugendrings und im Sportverein sowie im Landessportverband engagiert. Vor allem aber ist er Stadtarchivar – damit verdient er schließlich sein Geld. Derzeit promoviert er zum Thema „Gesandtschaften bikonfesssionieller Reichsstädte vom westfälischen Frieden zum jüngsten Reichsabschied – am Beispiel Dinkelsbühl“.

 

Dass er sich in seinem Studium auf die frühe Neuzeit und insbesondere auf den Dreißigjährigen Krieg spezialisiert hat, ist kein Zufall. Seine Leidenschaft für Geschichte und Kinderzeche führt er auf seine Kindheit zurück. „Heimatverbundenheit ist in mir und in vielen Dinkelsbühlern. Ich wollte so schnell wie möglich nach Dinkelsbühl zurück“, sagt er, und dass seine Stadt sein Sehnsuchtsort ist. Ein Altstadthäuschen zu kaufen, war da nur folgerichtig.

 

Wider den Alltagsrassismus

 

Was ist nun also mit dem schwarzlockigen Lorekind? Was mit dem Vorwurf zementierter Rollen und Verhaltensmuster? „Dass dem nicht so ist, das zeigt schon die Begeisterung, mit der auch Frauen bei der Kinderzeche mitmachen. Es ist einfach ein Fest für Jung und Alt, männlich, weiblich und auch divers“, so Mattausch. Er berichtet, er höre öfter, es wäre ja wohl undenkbar, wenn etwa die Lore, also das namengebende Kindermädchen des Historienspiels, eine schwarze Hautfarbe hätte. „Ich frage dann immer, wieso das ein Problem wäre. Unser kleiner Obrist, eine der Hauptfiguren des Festes, war in diesem Jahr schwarz. Allerdings haben wir keine große Sache daraus gemacht, weil das dann genau der Alltagsrassismus wäre, gegen den ich mich verwehre. Es sollte normal sein, dass jeder alles werden kann.“

 

Ausnahmen sind für ihn eine männliche Lore oder ein weiblicher Obrist: „Einfach, weil es für die Geschlechter Rollen gibt und das ja der Kern von Brauchtum ist, eben nicht dem Zeitgeist zu folgen, sondern den Menschen durch Kontinuität Sicherheit zu geben.“

 

„Schon jetzt ist sich zumindest halb Dinkelsbühl sicher, dass mein eineinhalbjähriger Sohn mich mal beerben wird“, sagt Papa Mattausch. Wohingegen seine Familie sich einig sei, dass niemand gezwungen werde, eine Rolle oder eine Funktion zu übernehmen. „Aus Begeisterung wie bei mir immer, aus Zwang nie“, so der junge Vater und erklärt, er würde da auch nicht unterscheiden zwischen Sohn und Tochter. Und überhaupt: Sein eigener Vater hatte als Lorebub kurze, kohlrabenschwarze Haare. Weil alle Kinder so bezaubernd sind, dass sie eine Stadt retten können.

 

Quelle: SWP HT Samstag, den 20.08.2022